Berlin. Als Chef des Tierparks Friedrichsfelde war er Herr über Pandas, Orang-Utans und den Marabu Adenauer – bis man ihn nicht mehr wollte.

Erlebnisse mit exotischen Tieren, zumal in freier, tropischer Wildbahn, waren für Ost-Berliner erheblich entfernter als für die Reiselustigen im Westen, wo der Nachbar schon mal über die Giraffen auf seinem Safari-Trip nach Afrika erzählen konnte oder der Arbeitskollege vom Besuch bei den Affen auf Bali. Von der Antilope bis zum Zebra – in der „Hauptstadt der DDR“ kannte man sie ausschließlich aus dem Tierpark. Oder aus der Zeitung, wenn dort mal wieder Fotos aus dem weitläufigen Gelände in Friedrichsfelde gebracht wurden. Und das war häufig der Fall.

Oft war dabei auch ein rundes Gesicht im Bild, mit hoher Stirn und Hornbrille, freundlich lächelnd. Ein Herr im grauen Anzug mit Krawatte, dem hier ein Panda vom Baumstamm entgegenkullerte, dort ein Waschbär im Genick saß, oder der Orang-Utan Jussup auf dem Schoß, ihn liebevoll umarmend, als wäre er der Affenvater. Alles in Szene gesetzt nicht nur im Freigelände, auch im Arbeitszimmer, in der Bibliothek vor Bücherreihen, oder am Küchentisch. Das war Heinrich Dathe, über all die Jahrzehnte gerechnet der beliebteste Mann in Ost-Berlin, Direktor des Tierparks. Und auch der bekannteste außerhalb der SED-Nomenklatura. Erfolgreich war er sowieso, anerkannt in der internationalen Fachwelt der Zoologen.

Heinrich Dathe: Auf der Straße sprach man ihn an: „Sind Sie nicht der Eichelhäher?“

Ob Heinrich Dathe insgeheim Genugtuung verspürte, nachdem es ausgerechnet ihm, in der „Hauptstadt der DDR“, 1975 gelungen war, als erster in Europa das Wappentier der USA zu züchten, den Weißkopfseeadler? Wohl kaum. Auch nicht darüber, dass einer seiner stolzen Marabus bei den Zoobesuchern „Adenauer“ hieß. „Professor Dathe“, wie die Ost-Berliner ihn nannten, war immer bemüht, sich und seinen Zoo aus der Politik herauszuhalten. Auch innerlich, er fremdelte mit ihr. Nach dem Krieg sah er es immer als seinen größten Fehler an, 1932, als 21-jähriger in die NSDAP eingetreten zu sein. Und dies nicht nur, weil man ihm, dem promovierten Zoologen (Titel seiner Doktorarbeit: „Über den Bau des männlichen Kopulationsorgans beim Meerschweinchen“), deshalb bis 1950 verbot, im Fach zu arbeiten, zu forschen. Er musste sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Und als Vogelstimmenimitator beim Rundfunk. Immerhin war er auch da bereits zu Popularität gelangt: „Sind Sie nicht der Eichelhäher?“, wurde er schon mal auf der Straße angesprochen.

Mehr zum Thema

Radiosendungen waren damals noch Gesprächsstoff im Alltagsleben, im Wohnzimmer, beim Bäcker, in der Arbeit. In der DDR vor allem jene Beiträge, die nicht wie das Politprogramm nur abgedroschene Parolen brachten. Erst recht nach dem 17. Juni 1953, als die Propaganda zum Dauerton wurde – und als parallel die große Zeit Dathes begann. So war es noch nicht so sehr die Gründung seines Zoos 1955, die ihn zum Stadtgespräch machte, als vielmehr wenig später der Beginn seiner regelmäßigen Sendung im Berliner Rundfunk: „Im Tierpark belauscht“. Von Anfang an, bis zum letzten Beitrag, 34 Jahre lang, begleitete ihn dabei die Reporterin Karin Rohn, die daraus kaum weniger Popularität saugte.

Dathe mit einem Affen auf seiner Schulter, der von einem Tierarzt untersucht wird, 1950er-Jahre.
Dathe mit einem Affen auf seiner Schulter, der von einem Tierarzt untersucht wird, 1950er-Jahre. © ullstein bild | Abraham Pisarek

Rohn und Dathe, sie mit dem lange rollenden „Rrr“ im Dialekt ihrer böhmischen Heimat, er in seinem unverkennbaren Sächsisch („Gagadüs, Gamäle und Beligane“), avancierten schnell zu Stars des Stadtlebens. Insgesamt 1774 Mal nahmen sie sonntags früh die Berliner im Radio mit zum Zoobesuch, eine Viertelstunde lang. Noch 1990 wählten die DDR-Bewohner die regelmäßige Matinee zur beliebtesten Rundfunksendung der ganzen Republik. Es war ein Fixpunkt in zigtausenden Wohnungen. „Punkt 8.30 Uhr hatten erstmal alle Familienmitglieder Funkstille und ließen Direktor Dathe reden: Über exotische Tiere und biologische Kuriositäten vor der eigenen Haustür, über Hörner und Geweihe, Federn und Felle, über schwere Geburten und leichte Beute“, schreibt Jürgen Mladek in seiner Biografie „Professor Dathe und seine Tiere“.

Dathe selbst hatte den frühen Sendebeginn angeregt, „denn vielleicht würden die Leute durch die Sendung ja Lust bekommen, noch am selben Tag in den Tierpark zu kommen.“ Er scheute sich dabei nicht, das wahre Leben im Tierreich zu schildern, benannte „die Mordlust und Gefräßigkeit“ seiner Zoobewohner. Am Beispiel etwa jenes Marabus mit dem Namen „Adenauer“, als der eine arglos herbeigeflogene Ente ertränkt und aufgefressen hatte.

Seit seiner Kindheit war der 1910 im Vogtland geborene Dathe vernarrt in Tiere. „Ich mochte als Junge keinen Zoo. Ich hielt ihn für ein Gefängnis, in dem man Tiere einsperrte.“ Dennoch ließ er sich gleich nach seinem Studium der Zoologie, Botanik und Geologie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zoo von Leipzig anstellen und wurde 1940 bereits dessen stellvertretender Direktor, nachdem er gleich zu Kriegsanfang verwundet worden war. Im März 1945 musste er nochmal an die Front, kam allerdings unmittelbar danach in englische Kriegsgefangenschaft, während der er zoologische Vorträge hielt und ornithologische Schulungen durchführte. 1950 kehrte er auf seinen Stellvertreterposten in Leipzig zurück.

Serie „Berliner Typen“

Wohl im Zuge der Aufarbeitung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, als die SED-Regierung auf Drängen aus Moskau ihrem Volk etwas bieten sollte, war die Idee für einen eigenen Zoo in Ost-Berlin aufgekommen, obwohl der im Westen noch lange nicht hinter der Mauer lag. 1954 wurde Dathe zum Direktor des neuen Tierparks berufen, noch gänzlich ohne Tiere. Als erstes ließ er Käfige für Tiere aus den borealen Breiten bauen, für Tropenhäuser mit Heizung kam das Geld erst nach und nach zusammen. Spenden spielten in den ersten Jahren eine große Rolle. Und Improvisation – an der sich Dathe, wenn es sein musste, auch persönlich beteiligte. So wuchs die Malaienbärin Evi die ersten Monate ihres Lebens 1961 im ehelichen Schlafzimmer auf, lag dort bisweilen sogar im Bett, nachdem die Bärenmutter sie verstoßen hatte.

Wobei der Zoodirektor auch keine Probleme hatte, seine Tiere auch einmal um einen Gefallen zu bitten. Eine der größten Attraktionen unter seiner Ägide war 1958 eine Schenkung aus dem damals noch befreundeten Rotchina: Eine Pandabärin. Die ganze Stadt war begeistert, hörte und las über „Chi-Chi“ im Radio und den Zeitungen. Da kam Dathe eines Tages zu Ohren, dass ein großer Fan von ihm, eine 30-jährige unheilbar kranke Berlinerin, den Bären nur zu gern noch einmal sehen würde. Er ließ eine Kiste zimmern und darin den Bären vier Treppen hoch bis vor ihr Bett wuchten. „Über das Gesicht der vom Tode gezeichneten Frau huschte ein zufriedenes, glückliches Lächeln“, zitiert ihn Mladek in seiner Biografie.

Nach seinem unwürdigen Rausschmiss starb Dathe an gebrochenem Herzen

So kannten die Berliner ihren „Professor Dathe“. Um so fassungsloser waren sie dann, als sie von den unwürdigen, ja unglaublichen Umständen des Endes seiner Amtszeit erfuhren. 80 Jahre war Dathe alt, als er am 7. Dezember 1990 im Briefkasten seiner Dienstwohnung im Schloss Friedrichsfelde auf dem Gelände des Tierparks ein Schreiben fand, in dem er lesen musste: „Sie werden am Montag, den 10. Dezember 1990 Ihre Amtsgeschäfte an Ihren Stellvertreter, Herrn Grummt, übergeben. Sie haben Zeit bis zum Freitag, den 14. Dezember, um ihr Büro zu übergeben. Leider müssen wir Sie auch anweisen, bis Ende des Monats Ihre Dienstwohnung zu räumen, was hoffentlich kein Problem für Sie sein wird, da Sie mit Ihrer Gattin ein Haus besitzen.“ Man müsse die Leitung des Tierparks jetzt in jüngere Hände legen.

Heinrich Dathe und Rundfunkreporterin Karin Rohn bei einem Tierpark-Gespräch im Herbst 1990.
Heinrich Dathe und Rundfunkreporterin Karin Rohn bei einem Tierpark-Gespräch im Herbst 1990. © ullstein bild | Zentralbild

Absender des Briefes war Richard Dahlheimer, Stellvertreter der Ost-Berliner Kultur-Stadträtin Irana Rusta (SPD), noch war die Berliner Verwaltung nicht zusammengelegt. Verfasst war der Brief in einem Tonfall, den man nur als doppelten Rausschmiss bezeichnen kann – in drei Tagen aus dem Amt, in einer Woche aus der Wohnung. Letztere Frist wurde dann noch auf ein halbes Jahr verlängert, dennoch überlebte Dathe das Schreiben nur einen knappen Monat. Am 6. Januar 1991 starb er, nach einhelliger Meinung aller, die ihn kannten, an gebrochenem Herzen. „Das hielt den Beamten aus dem Roten Rathaus aber keineswegs davon ab, ­Dathe auch nach seinem Tod noch in Misskredit zu bringen“, schreibt der MDR rückblickend: Es sei ein „Akt der Barmherzigkeit“ gewesen, „den alten Mann endlich in den Ruhestand zu schicken“, höhnte Dahlheimer. Und fügte noch an, Dathe sei im Grunde nichts als ein „Ceausescu des Tierparkwesens“ gewesen. Dabei war Heinrich Dathe nicht einmal Mitglied der SED und hatte niemals Losungen oder Parteiplakate in seinem Tierpark anbringen lassen.