Berlin. Die Psychologin und Waldcoachin Suse Schumacher kennt die Kräfte, die man in der freien Natur erleben und finden kann. Ein Buchauszug.

Suse Schumacher ist Psychologin und Podcasterin, sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. Als Naturtherapeutin arbeitet sie mit ihren Klientinnen am liebsten im Wald. Warum, erklärt sie in diesem Auszug aus ihrem neuen Buch.

Das Nest scheint leer zu sein. Ist der Zaunkönig ausgeflogen oder ausgezogen? Vor drei Wochen schaute ich aus meinem Küchenfenster, und das Weibchen schaute neugierig zurück. Seitdem herrscht Stille im Nest. Die Antwort auf meine Frage kommt unverhofft. Es ist Mai, ich sitze im Garten und schreibe an diesem Buch. Plötzlich nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie etwas auf mich zuflattert und auf meinem Hut landet. Ich halte meinen Kopf still. Da hat sich tatsächlich ein kleiner Vogel auf meinem Hut niedergelassen. Ich halte die Luft an und bleibe reglos. Dann fliegt der Kleine weiter. Ich sehe ihm nach, wie er über dem Küchenfenster unter dem Vordach verschwindet. Mein Herz wird warm. Der Zaunkönig wohnt immer noch hier. Und er hat offenbar keine Angst vor mir. Ich lächle und bin sehr berührt.

Früher ging ich ganz normal im Wald spazieren. Wie die meisten Menschen unterhielt ich mich dabei mit Freunden. Oder ich drehte meine kleine Joggingrunde. Ich nahm die Ruhe, die Kühle, die gute Luft wahr ,aber kaum etwas von der komplexen Schönheit um mich herum. Ich war mit mir beschäftigt. Ich spürte zwar, dass mir die Ruhe des Waldes guttat, um mich vom anstrengenden Stadtleben zu erholen. Aber Bäume, Pflanzen oder Tiere waren nur Kulisse, mehr nicht. Wahrscheinlich geht es vielen Menschen ähnlich. Man geht spazieren, treibt Sport, sammelt vielleicht Essbares. Man konsumiert den Wald.

Suse Schumacher: Die Psychologie des Waldes. Kailash, 256 Seiten, 24. Euro.
Suse Schumacher: Die Psychologie des Waldes. Kailash, 256 Seiten, 24. Euro. © Verlag | Verlag

Mit meiner Ausbildung zur Naturtherapeutin habe ich gelernt, dem Wald neu zu begegnen – weniger als Konsumentin, eher als Partnerin. Ich versuche nun, mit dem Herzen im Wald zu sein. Was früher nur ein Spaziergang war, ist heute eine tiefe, berührende Begegnung. Eine Verbundenheit mit der Natur stellt sich ein. Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe kommen auf, die sich in Rührung, manchmal auch in Freudentränen zeigen. Es ist das Gefühl, Teil von etwas sehr viel Größerem zu sein. Ein stilles Verstehen, das tiefer reicht als der Verstand, verbunden mit einem tiefen, intuitiven Wissen. Sosein, Hiersein, Einssein. Innen und außen scheinen sich aufzulösen. Ein Sehen und Verstehen mit dem Herzen.

Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einem „Resonanzverhältnis zur Natur“, sofern wir es zulassen. Man kann einen alten Baum als Holzlieferanten betrachten, aber auch als ein vielfältig mit seiner Umgebung vernetztes Lebewesen, das hunderten von Mitwesen – vom Mikroorganismus bis zum Igel – Schutz, Baumaterial und Nahrung bietet. „Da ist ein lebendiges Etwas, eine eigensinnige Kraft, und daraus entsteht der Wunsch, mit dem Gegenüber in Verbindung zu treten und eine Antwort zu erhaltens“, sagt Rosa, „nicht eine inhaltliche Antwort auf eine konkrete Frage natürlich, sondern die Wahrnehmung einer inneren und auch leiblichen Verbundenheit oder Zusammengehörigkeit in einem verwobenen Ganzen.“ Wenn wir Resonanz erfahren, entsteht nach Rosa „ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“. Eine wunderbare Definition von Leben.

Mit dem Herzen zu sehen, erfordert Sensibilität und Offenheit.
Mit dem Herzen zu sehen, erfordert Sensibilität und Offenheit. © . | Suse Schumacher

Wahrnehmen bedeutet zunächst hören, sehen, fühlen, schmecken oder riechen. Das Wahrnehmen mit dem Herzen geht darüber hinaus. Wir sind uns der Natur, der Menschen und der Welt bewusst und fühlen sie empathisch und liebevoll, nicht als distanzierte Beobachter, sondern als ein Teil davon. Wir verstehen, ohne voreilig zu bewerten, etwas ändern oder kontrollieren zu wollen. Wir lassen Intuition zu. Mit dem Herzen zu sehen, erfordert Sensibilität und Offenheit, die Fähigkeit, eigene Gefühle und Befindlichkeiten wahrzunehmen, ohne sich allzu sehr mit ihnen zu identifizieren, und den Mut, sich vom nutzenfixierten Alltagspragmatismu szu verabschieden.

Erich Fromm prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Biophilie“ und verstand darunter die „leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen; sie ist der Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt. Der biophile Mensch baut lieber etwas Neues auf, als dass er das Alte bewahrt. Er will mehr sein, statt mehr haben.“

Ein Mensch, der sich der Liebe und damit seinem Herzen öffnet, sieht die Welt in all ihren Facetten: ihre Schönheit, aber auch die Probleme, die er allein nicht verändern kann. Mit dem Herzen zu sehen, ist mehr als sinnliche Wahrnehmung; es ist eine Kunst, die man lernen kann. Der Schlüssel liegt in unserer Haltung, ob zum Wald, zu unseren Mitgeschöpfen oder zum Reichtum des Lebens. Freiheit heißt für mich, sich in jedem Moment entscheiden zu können, ob wir in einer materiellen, von Zahlen dominierten Welt verharren oder in ein buntes Universum voller Mitgefühl, Freude und Kostbarkeiten wechseln. Entscheiden wir uns für eine sinnliche Verbindung mit der Natur und öffnen unser Herz, dann wird die Welt zu einer Schatzkammer des Lebens.

Zärtliche, absichtslose Wahrnehmung: die Praxis der Achtsamkeit.
Zärtliche, absichtslose Wahrnehmung: die Praxis der Achtsamkeit. © . | Suse Schumacher

Ob ein berückend schöner Sonnenaufgang, der Blick ins Tal nach einem anstrengenden Bergaufstieg oder die Ruhe eines kühlen Waldsees, über dem Nebelschwaden wabern – all dies sind Momente, in denen sich das Herz plötzlich öffnen kann. Wir werden tief berührt und sind erfüllt von Dankbarkeit. Diese Momente können wir nicht steuern. Unser Herz lässt sich nicht herumkommandieren, aber von absichtsloser Sinnlichkeit durchaus betören. Je weniger wir wollen, fordern oder erwarten, desto eher entsteht Verbundenheit. Liebe ist das Gegenteil von Kontrolle. Liebe ist der Mut zum Dasein.

Wie aber bewegen wir uns in diesen Zustand der Liebe? Indem wir unseren Kopf mit seinem Monkey Mind liebevoll, aber entschlossen vom Steuer auf den Beifahrersitz schieben. Wir denken für eine Weile nich tin den gelernten Kosten-Nutzen-Kategorien und behandeln jeden Moment, jede Begegnung wie eine Kostbarkeit. Der Kopf fragt vielleicht: Lohnt sich das? Das Herz antwortet mit einem Lächeln. Eine zärtliche, absichtslose Wahrnehmung kann unser Herz öffnen. Das ist die Praxis der Achtsamkeit. Wir werden bewusster, sensitiver, wacher, behutsamer und zärtlicher.

Menschen im Wald

Um mein Lieblingsmotiv zu bemühen: Wenn wir im Wald unterwegs sind, kann uns ein großer alter Baum zutiefst berühren, wenn es uns gelingt, unsere gewohnten Denkmuster abzulegen. Das Berührtwerden öffnet unser Herz. Wir nehmen die unerschütterliche Präsenz des Baumes wahr. Wir spüren die Erhabenheit, Lebendigkeit und Kraft dieses Wesens, das schon so manchen Sturm, eisige Temperaturen oder quälende Trockenheit erlebt hat. Mit etwas Fantasie erahnen wir die Schicksale der Menschen, die in seinem Schatten rasteten. Denselben Baum können wir auch aus unserer kritischen Alltagsperspektive betrachten. Schlagartig verändert sich seine Präsenz. Wir sehen ein Opfer des Wassermangels, interpretieren die verdorrte Krone und sorgen uns wegen des Klimawandels. Wir sehen Bruchstellen und Verfall und überlegen vielleicht, welche Gefahr von Ästen ausgeht, die im nächsten Sturm brechen. Kommt die Versicherung für diese Schäden auf?

Wir können dem alten Baum aus diesen beiden Grundhaltungen heraus gegenübertreten: rational und sorgenvoll oder mit liebender Bezugnahme. Aus der kritischen Perspektive legen wir den Maßstab eines perfekten Baumes an und sehen vor allem Defizite oder Gefahren. Wir nbewerten aus der kritischen Distanz. Der Baum bleibt Objekt und berührt uns nicht.

Es geht gerade nicht darum, den Verstand auszuschalten

Die liebende Bezugnahme dagegen will Verbundenheit und Resonanz. Der Baum ist kein Objekt, sondern ein eigenständiges Subjekt, ein Lebewesen, das sich bedingungslos lieben lässt – nur für sein Dasein. Perfektion ist keine Kategorie der Liebe. Bedingungslose Liebe vergleicht nicht, weil das Ideal bereits existiert – in diesem Baum. Es geht um eine Haltung der Verbundenheit, die sich auf das ganze Leben bezieht. Aber Achtung: Eines der größten Missverständnisse auf dem Weg zum Herzen ist die Annahme, dass wir unseren Verstand ausschalten sollen. Das Gegenteil ist wahr. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszutauschen, sondern ein Gleichgewicht zu finden. Denn Herz und Verstand sind miteinander verbunden. Erst in ihrer Ausgeglichenheit entsteht Verbindung.

Von diesem Punkt der inneren Harmonie kann sich das Herz öffnen und sich unvoreingenommen auf diesen einen Moment einlassen. Sich´mit dem gegenwärtig Erlebten zu verbinden, das ist Liebe. Immer wenn uns das gelingt – ob mit einem Menschen, einer Sache oder einem Mitgeschöpf –, dann findet berührende Verbindung statt. Dann sind wir in Kontakt mit uns selbst und treten in Beziehung mit der lebendigen Welt um uns herum. Durch eine liebende Bezugnahme nehmen wir die Kostbarkeit und die Schönheit des Augenblicks wahr. Liebe entsteht in der Verbindung mit allem Lebendigen und fühlt sich von Schönheit angezogen.