Berlin. Im Deutschen Bundestag wurden die antisemitischen Äußerungen bei der Abschlussveranstaltung des Festivals aufgearbeitet.

Es ist schon das zweite Mal, dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) sich mit Antisemitismusvorwürfen auseinandersetzen muss. Den ersten Eklat gab es im Sommer 2022 auf der documenta fifteen, als ein antisemitisches Banner erst nach einer empörten Debatte verhüllt wurde – was die Generaldirektorin Sabine Schormann den Job kostete.

Eine ähnlich erhitzte Debatte löste die Preisverleihung der 74. Berlinale aus, als am 24. Februar Preisträger ihre Solidarität mit Palästina bekundeten und einen Waffenstillstand in Gaza forderten. Auch von Apartheid und Genozid war dabei die Rede. Die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober wurden dagegen ausgeblendet. Was nur schwer erträglich war, aber vom Publikum unkritisch beklatscht wurde.

Angriffe gegen das Festival, Rücktrittsforderungen gegen Roth

Niemand stand auf, niemand protestierte, auch Claudia Roth nicht, die im Saal saß. Oder der gleichfalls anwesende Regierende Bürgermeister Berlins, Kai Wegner (CDU), der sich hinterher umso mehr echauffierte. Die einzige, die an dem Abend den Pogrom vom 7. Oktober erwähnte, war Mariette Rissenbeek, die Geschäftsführerin des Festivals. Diesmal muss keiner zurücktreten; die Verträge der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und des Programmleiters Carlo Chatrian sind nach fünf Jahren bereits ausgelaufen, am 1. April hat die Amerikanerin Tricia Tuttle das neue Amt der alleinigen Intendanz übernommen.

Aber Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hat Claudia Roth zum Rücktritt aufgefordert. Und auch sonst ist der Schaden maximal groß. Weil rechte Gegner von Kultur und Vielfalt den Eklat für ihre Zwecke nutzen, um die Fördergelder für das betont politische Festival infrage zu stellen.

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Kulturstaatsministerin Claudi Roth (Die Grünen) mit der neuen Intendantin der Berlinale, Tricia Tuttle.
Kulturstaatsministerin Claudi Roth (Die Grünen) mit der neuen Intendantin der Berlinale, Tricia Tuttle. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Aus diesem Grund beschäftigt sich der Kulturausschuss des Bundestages in einer öffentlichen Sitzung am Mittwoch mit den antiisraelischen und antisemitischen Vorfällen bei der Berlinale. Dabei ist Mariette Rissenbeek zugegen, die ihren Vertrag um einige Monate verlängert hat, um eine bessere Staffelübergabe an Tricia Tuttle zu ermöglichen, und Tuttle selbst, die erste Frau weltweit, die allein ein A-Festival leitet.

Carlo Chatrian dagegen fehlt. Er fühlt sich wohl nicht mehr zuständig, hat schon in den Tagen nach dem Eklat immer Rissenbeek vorgeschoben und sich nur auf seinem Instagram-Account zu den Vorwürfen geäußert. Auf die Einladung des Ausschusses hat er gar nicht erst geantwortet. Wer auch nicht kommt, was alle Anwesenden bedauern und kritisieren, ist der Regierende Bürgermeister. Wo doch die Stadt Berlin ebenfalls ein Geldgeber des Festivals ist. Frauen scheinen hier mehr Verantwortung zu übernehmen als Männer.

Roth findet klare Worte für ihre Haltung an dem Abend

Claudia Roth bittet zu Beginn noch mal in aller Deutlichkeit, man müsse doch „bitte unterscheiden, was die Berlinale als Institution sagt und was einzelne Gäste sagen. Die persönliche Meinung Einzelner darf nicht der Berlinale oder der Bundespolitik zugerechnet werden.“ Sie hätte sich sehr wohl gewünscht, dass die Moderatorin Hadnet Tesfai reagiert und widersprochen hätte.

Die Forderung, Roth selbst hätte auf Bühne gehen und intervenieren sollen, weist die Staatsministerin hingegen entschieden zurück. „Was wäre das für ein Bild gewesen: Die Kulturstaatsministerin unterbindet die freie Meinungsäußerung bei einer internationalen Kulturveranstaltung.“ Es müsse kulturpolitisch darum gehen, Orte für Diskussionen und kontroverse Auseinandersetzungen zu schaffen, um „aus den Bekenntnisfronten und der toxischen Konfrontation herauszukommen.“

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Anstoß erregten vor allem die Worte des Preistägers Ben Russell (l.), der demonstrativ mit Palästinerschal auf die Bühne kam.
Anstoß erregten vor allem die Worte des Preistägers Ben Russell (l.), der demonstrativ mit Palästinerschal auf die Bühne kam. © picture alliance/dpa | Monika Skolimowska

Rissenbeek spricht von ihrer Erschütterung über die Berichterstattung der Preisverleihung, weil es mehr um die Sorge um Gaza ging als um Kritik an Israel. Sie hebt noch einmal hervor, dass die Berlinale den Dialog gesucht und dafür auch einen Raum, das Tiny House, geschaffen habe. Und dass viele Vorkehrungen für etwaige Eskalationen vorgenommen wurden und es auch Workshops mit allen Moderatoren gab. Rissenbeek ist auch persönlich betroffen über die antisemitischen Vorwürfe gegen die Berlinale-Leitung, haben doch ihre eigenen Großeltern in den Niederlanden Juden vor den Nazis versteckt.

Für viele überraschend dürfte die Erkenntnis sein, dass die Eröffnung wie die Abschlussveranstaltung der Berlinale gar nicht in der Verantwortung des Festivals lagen, sondern in der des ZDF, das live übertragen hat.

Es geht auch wieder um parteipolitische Spielchen

Mit der vom Sender ausgewählten Moderatorin habe es noch am Vorabend der Preisverleihung ein Gespräch gegeben, so Rissenbeek. Von Moderationskarten für den Ernstfall weiß sie dagegen nicht. Und warum Tesfai nicht reagiert habe, bleibt die Leerstelle dieser Anhörung. Aber Roth macht klar, dass Bund und Berlinale künftig mitentscheiden werden, wer moderiert.

Wie immer beim Kulturausschuss geht es auch um parteipolitische Spielchen. Dorothee Bär von der CDU fragt sich, warum es einen Verhaltenskodex gibt, wenn er doch nichts nutzt. Woraufhin Erhard Grundl von den Grünen daran erinnert, dass die Schwesterpartei CSU nur von Hubert Aiwanger gestützt werde und dies „Erklärungen aus dem Glashaus“ seien. Und Jan Korte von den Linken gar eine „leichte Obsession der CDU gegen die Frau Staatsministerin“ sieht.

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Die Preisträger Yuval Abraham (l.) und Basel Adra erhielten nach ihrer kritischen Dankresrede sogar Morddrohungen.
Die Preisträger Yuval Abraham (l.) und Basel Adra erhielten nach ihrer kritischen Dankresrede sogar Morddrohungen. © DPA Images | Monika Skolimowska

Götz Frömming von der AfD wiederum wundert sich, dass gegen antisemitische Redner nicht vorgegangen wurde, sehr wohl aber gegen Politiker seiner Partei, die von der Eröffnungsfeier ausgeschlossen wurden. Was Rissenbeek damit pariert, die AfD sei erst ausgeladen worden, als ein Geheimtreffen in Potsdam bekannt wurde, in dem offen über Remigration gesprochen wurde.

Am Ende wird Mariette Rissenbeek ausdrücklich gedankt

Zu Wort kommt dann auch Tricia Tuttle, die den Eklat als Beobachterin verfolgt hat, aber schon mal sehen konnte, welch kalter Wind einer Berlinale-Chefin entgegenweht. Das Festival, bekräftigt sie, stehe nicht nur gegen Antisemitismus, sondern auch gegen Rassismus, Homophobie und Misogynie. Das Festival heiße Menschen aus der ganzen Welt willkommen. Und die Amerikanerin, die noch auf Englisch spricht, möchte sie, dass die Berlinale „weiterhin vital bleibt, national wie international“. Das sei auch ihr Ziel, als Intendantin. Nicht nur die Berlinale, auch andere Festivals hätten in den letzten Monaten viel lernen müssen. Für sie sei das Bedeutendste, „dass wir weiter deeskalieren“, dass man den Dialog fortsetze und dafür Safe Spaces schaffe.

Am Ende wird Rissenbeek noch einmal gedankt für ihre Arbeit als Geschäftsführerin und vor allem, wie sie auf die Krisen der letzten Tage reagiert hat. Auch was die Hassposts anging, die am Abend der Preisverleihung durch einen Hackerangriff auf der Berlinale-Website landeten. „Die Abschlussveranstaltung war nicht alles“, meint abschließend Karin Budde (SPD), die Vorsitzende des Kulturausschusses: „Wir hätten uns alle ein anderes Ende Ihrer Intendanz gewünscht.“