Berlin. Beim Festgottesdienst in der Berliner Stadtmission erlebte Kolumnist Dieter Puhl mehr als eine Überraschung.

Ich wurde von etlichen umarmt und geherzt. Das tat gut. Und ich umarmte fleißig zurück. Letzten Sonntag fand der Festgottesdienst der Berliner Stadtmission statt. Nach 31 Jahren, die ich dort hauptamtlich arbeitete, war das nun mein erster Gottesdienst als Rentner für mich.

In der Nacht zuvor hatte ich von der Arbeit geträumt. Ich finde das gar nicht ungewöhnlich, von meiner Schulzeit träume ich auch manchmal. Morgens war ich etwas aufgeregt. Wie würden die Begegnungen wohl werden? Das Wetter spielte mit, die Fahrt mit dem Roller war schön, zwei Baustellen waren zwischenzeitlich auf der Strecke von Charlottenburg nach Mitte fertiggestellt worden, eine neue ist hinzugekommen. Das Leben geht weiter.

Ich mag Menschen. Nicht alle, an diesem Ort viele. Einige liebe ich sogar. Obwohl es die Arbeit war. Viele Kolleginnen und Kollegen sind mir vertraut, wir kennen unsere Eigenarten, Stärken und auch Schwächen, selbst unsere Macken sind uns nicht verborgen. Mit einigen habe ich mehr Lebenszeit verbracht als mit meiner Freundin. Arbeit ist auch sehr viel Leben!

Regeln für die Liebe und dass wir uns nicht auf den Kopf hauen

Schön: Bei solch einem Fest trifft man die aktuell Beschäftigten. Barbara, Michael, Alexander, Jörg, Karen und Ulli. Umarmungen eben. Aber auch mit denen, die hier mal tätig waren, bis vor fünf oder fünfzehn Jahren oder fünf Monaten wie ich. Dr. Schulz, Personalchef, von dem ich früher in ethischen Fragen viel gelernt habe. „Das dürfen wir als Christen nicht“: Sie lagen stets richtig! Jetzt sagen wir es zu vielleicht zu selten.

Wie man lebt, die Familie als kleine Gemeinde, die Türe immer offen für alle. Ein schönes Modell lebte und lebt Heinz Lott, unser ehemaliger Bauleiter. Christ zu sein, ist nämlich nicht in erster Linie eine Wissenschaft, sondern das Leben mit Gott und unseren Nächsten. Regeln für die Liebe und dass wir uns nicht auf den Kopf hauen. Und mehr!

So ein Gottesdienst tut mir oft gut. Es wird, das hat Tradition hier, viel gesungen. Oft fordert die Predigt zum Mit-, manchmal zum Nachdenken auf. Das weht über Tage nach und Christian Ceconi, Pfarrer und Stadtmissionsdirektor, kann das: eine Ladestation zu Gott herstellen, das ist prima für die Batterien. Allen höre ich nun wirklich nicht immer zu, ich suche mir meine Predigerin oder meinen Prediger schon aus. Übrigens ist die Stadtmission im Laufe der letzten Jahrzehnte jünger geworden. Man sieht auch, es sind nicht alle reich in dieser Stadt. Auch schön: Der Planet wächst zusammen, nicht jede Wiege stand in Spandau oder Kappeln.

Und dann kamen die Erinnerungen

Brötchen und Kuchen und Suppe waren dann für viele ein leckerer Imbiss, für einige aber auch die einzige am Mahlzeit am Tag. Denn der Kühlschrank ist leer, sofern es ihn oder gar eine Küche überhaupt gibt.
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Und dann kamen die Erinnerungen. Mein Vater, der jeden Abend vor dem Bett kniet und betet, meine Oma, die Weihnachtslieder auf dem Kamm bläst. Die Ausbildung zum Diakon, die ich 1980 als überzeugter Atheist beendete. Damals war die Berliner Stadtmission ein No Go für mich, mehr was für die frommen Flöten. Ich dagegen lebte prima ohne Gott und es ging mir gut. 1992 kam die Anstellung in der Stadtmission, die Arbeit mit obdachlosen Menschen war einfach überzeugend. Das mit Jesus wuchs dann wieder langsam, über Jahre. Bis ich merkte, er war ja gar nicht weg, wir hatten einfach Sendepause miteinander. Das kommt doch in vielen Beziehungen vor, diese streckenweise Sprachlosigkeit.

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„Erzähl noch mehr von Jesus in deinen Kolumnen, deshalb kaufen viele die Morgenpost, schneiden den Artikel aus, geben die Kolumne unter Freunden weiter“. Ein freundlicher Wunsch von Heinz und ich versuche ihm zu glauben. Ich liebe Jesus nämlich. Und ein ehemaliger Atheist, der eigentlich gar keiner war, wieder zurückfand und nun sogar Menschen für Gott mitnehmen darf … Ein schönes Durcheinander, Leben genannt. Mir gefällt das.