Berlin. Sechs Ukrainer werden an kriegsverletzten Landsmännern in der Prothesenanpassung geschult. Das Wissen wird zu Hause dringend benötigt.

Vitali hat beide Beine in der ukrainischen Stadt Donezk verloren, als eine Mine explodiert ist. Er war vom Beginn der russischen Invasion 2022 an der Front. Ein Kollege von ihm – 24 Jahre alt – hat nicht nur seine Beine, sondern auch einen Arm verloren. Zudem habe er bei einer Explosion so viel heiße Luft eingeatmet, dass die Luftröhre schwer beschädigt ist. Die beiden Männer sowie elf weitere Soldaten aus der Ukraine sind am Freitagnachmittag in Berlin eingetroffen, um ihre schweren Verletzungen behandeln zu lassen, damit sie sich bald wieder normal bewegen können.

Im Rahmen des Städtepartner-Projektes „Prothesenzentrum Berlin-Kyiv“ sollen insgesamt 60 Soldaten aus der Ukraine, die im Krieg eines oder mehrere ihrer Gliedmaßen verloren haben, mit einer Prothese versorgt werden. Gruppenweise werden sie nacheinander nach Berlin gebracht. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sprach zum Start des Projektes am Freitag davon, dass die seit Herbst 2023 bestehende Städtepartnerschaft durch diese Initiative mit Leben gefüllt werde. Die Unterstützung der Ukraine sei nicht nur ein Lippenbekenntnis, man leiste Hilfe zur Selbsthilfe.

Zum Start des Projektes „Prothesenzentrum Berlin-Kyiv“ unterhielten sich Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) mit den verletzten Soldaten aus der Ukraine.
Zum Start des Projektes „Prothesenzentrum Berlin-Kyiv“ unterhielten sich Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) mit den verletzten Soldaten aus der Ukraine. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Der „Soldat Null“: Wie das Projekt zustande kam

Denn: Gefertigt werden sollen die Prothesen von sechs weiteren Ukrainern, die ebenfalls am Freitag nach Berlin kamen. Im Eiltempo sollen sie in den kommenden drei Monaten von insgesamt sechs Orthopädie-Meisterbetrieben aus der Hauptstadt darin geschult werden, wie sie die Körperersatzstücke anfertigen.

„Die Trainees haben eine medizinische oder mechanische Vorbildung, sie haben aber noch nie eine Prothese angepasst“, sagte Janine von Wolfersdorff von der Hilfsorganisation „Life Bridge Ukraine“. Sie ist Initiatorin des Projektes, das zum Ziel hat, im Herbst durch das erworbene Know-How der sechs Trainees ein Prothesenzentrum in Kyiv eröffnen zu können. Unterstützt wird das Projekt von verschiedensten Akteuren: durch die Senatskanzlei, die Integrationssenatsverwaltung, das Bundeswehrkrankenhaus, das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Flixbus und durch private Spenden.

Die Idee kam auf durch den „Soldat Null“, wie von Wolfersdorff erklärte. Für den ukrainischen Soldaten sei im vergangenen Jahr eine Prothese angefertigt worden, mit er viel besser laufen konnte. Vorher sei er gehumpelt, die neue Prothese aber habe sich wie ein Maserati angefühlt, so die Projektgründerin. Der Stadtverwaltung in Kyiv wurde auf die gut angepasste Prothese aufmerksam, woraufhin die Initiative ins Rollen kam – mittlerweile sei der „Soldat Null“ wieder an der Front, sende aber weiterhin regelmäßig Grüße nach Berlin.

Warum der Bedarf an Prothesen in der Ukraine so hoch ist

Der Bedarf in der Ukraine ist riesig: Schätzungen gehen von 30.000 bis 50.000 Amputationsverletzten aus. Gleichzeitig gibt es zu wenige Orthopädietechniker in der Ukraine, um alle Kriegsopfer schnell und gut zu versorgen, wie es in einer Pressemitteilung der Senatskanzlei heißt. Angesichts dieser Masse an Invaliden: Wie wurden die 60 Soldaten ausgewählt, die in Berlin behandelt werden?

„Sie fahren nicht einfach mit dem Bus nach Kyiv, öffnen die Tür und dann steigen 60 Soldaten ein“, so von Wolfersdorff. Es sei eine Vertrauensfrage, aber auch eine Frage des bürokratischen Aufwands. Infrage für das Projekt seien solche Soldaten gekommen, bei denen eine direkte Prothesenanpassung möglich ist. „Am leichtesten sind Unterschenkel-Amputationen“, erklärte von Wolfersdorff, die sich bereits seit längerem für die Menschen in der Ukraine einsetzt.

Im Juli 2023 verlor Vitali beide Beine bei einer Minenexplosion in der Ukraine. Er steckt viel Hoffnung in das Prothesenzentrum und freut sich, dass die Ukraine international viel Unterstützung erfährt.
Im Juli 2023 verlor Vitali beide Beine bei einer Minenexplosion in der Ukraine. Er steckt viel Hoffnung in das Prothesenzentrum und freut sich, dass die Ukraine international viel Unterstützung erfährt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Allerdings kämen in der Ukraine insbesondere Oberschenkel-Amputationen häufig vor. Der Grund: Der sogenannte Tourniquet, eine Art Gürtel, mit dem der Blutfluss bei Verletzungen gestoppt werden soll, werde an der Front oft am Oberschenkel verwendet. „Das Tourniquet darf nicht länger als zwei Stunden anliegen, sonst sterben Muskeln und Gewebe ab“, so von Wolfersdorff. Außerdem trage der Drohnenkrieg dazu bei, dass Soldaten bis zu zwölf Stunden im kalten Schlamm verbringen müssten, bevor sie richtig versorgt werden.

Prothese wie ein „maßgeschneiderter Anzug“

In dem kriegsgebeuteltem Land würden oftmals Prothesen verwendet, die nicht ideal passen würden und womit die Soldatinnen und Soldaten nicht mobil seien. Die Anpassung von Prothesen sei aber „eine Handwerkskunst, wie das Entwerfen eines maßgeschneiderten Anzugs.“

Um die Soldaten kümmerten sich viele Ehrenamtliche, darunter auch Physiotherapeuten und Ärzte. Jedoch: „Wir erwarten, dass sie sich auch selbst organisieren, denn das gehört zur Mobilisierung dazu. Eine Prothese kann nicht angepasst werden, wenn man nur in der Unterkunft herumsitzt und wartet.“