Berlin. Catcalling ist in Deutschland nicht strafbar. So wehren sich Frauen in Berlin gegen verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum.

„Er starrte mich an und rieb sich offensichtlich sein Genital“ – mit orangener Straßenmalkreide schreiben Sina Krick und Magdalena Weißing diesen Satz auf die Monbijou-Brücke in Berlin Mitte. Sie schreiben ihn stellvertreten für eine Frau, die dieser Situation ausgesetzt war. Manche der Vorbeikommenden bleiben stehen. Interessiert. Beobachten die Aktion, die sich hier in Berlin-typischer Szenerie nahe der Museumsinsel abspielt. Nicken verständnisvoll oder schütteln beinahe abschätzig den Kopf, gehen weiter. Andere nehmen gar keine Notiz. Die 25-jährige Krick und die 24-jährige Weißing wollen auf Catcalling aufmerksam machen.

Der Begriff Catcalling steht für verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum: „Hinterherrufen, Pfeifen, Kuss- oder Katzengeräusche“, erklärt Weißing, „aber auch die Gestik und Mimik spielen eine Rolle“ – wie in dem Fall, den die beiden Studentinnen heute an der Monbijou-Brücke ankreiden. Häufig ginge mit Catcalling auch körperliche sexuelle Belästigung einher, ergänzt Krick. Dabei ging es nicht ausschließlich um Berührungen, sondern auch darum, dass Frauen durch bestimmte Bewegungen der Raum eingeschränkt oder der Weg versperrt werde. Die zwei Aktivistinnen entstauben ihre Kleidung und fotografieren den Schriftzug. Später werden sie das Foto auf der Instagramseite der Gruppe „Catcalls of Berlin“ hochladen.

Catcalling in Deutschland nicht strafbar

Aktuell sind es 16 Aktivistinnen Bei Catcalls of Berlin, die meisten von ihnen in den Zwanzigern. Keine Männer, obwohl sie dafür offen wären, wie die beiden betonen: „Feminismus ist nicht nur ein Thema für Frauen oder weiblich gelesene Personen, sondern auch für Männer. Es geht generell darum, das Rollenbild aufzubrechen“, so Krick und Weißing fügt hinzu: „Das geht nicht ohne die eine Hälfte der Gesellschaft.“ Zudem: Auch männlich gelesenen Personen passieren Catcalls – wenn auch wesentlich seltener. Die beiden berichten von einem, ihnen gemeldeten Fall, in dem eine Frau eine männlich gelesen Person gecatcalled hätte.

Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Frankreich, Portugal oder Belgien ist Catcalling in Deutschland nicht strafbar. Geahndet werden kann Catcalling als Beleidigung gemäß des §185 des Strafgesetzbuchs – jedoch nur wenn „ein Angriff auf die Ehre einer anderen Person“ vorliegt. „Da frage ich mich, wie die Ehre einer Person definiert wird“, kritisiert Weißing, empfindet es „als zu schwammig.“ Die beiden Aktivistinnen wollen, dass Catcalling strafbar wird.

SPD fordert: „Erhebliche verbale sexuelle Belästigung“ soll strafbar werden

Im Juni hat die Bundes-SPD einen neuen Straftatbestand für sexuelle Belästigung vorgeschlagen. In einem Positionspapier fordert die Partei, dass „erhebliche verbale sexuelle Belästigung“ strafbar werden soll. „Unerwünschte sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum und im Netz sind für viele Frauen leider eine alltägliche Erfahrung. [...] Wir wollen deswegen, dass gezielte, offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale sexuelle Belästigungen in Zukunft strafrechtlich verfolgt und geahndet werden können“, so die Bundestagsabgeordnete und rechtspolitische Sprecherin der Fraktion, Sonja Eichwede, die weiter, auf Rückfrage der Berliner Morgenpost nachdem aktuellen Stand, sagt: „Wir setzen uns dafür ein, dass im Rahmen der bevorstehenden Strafrechtsreform eine neue Strafvorschrift geschaffen wird. Darüber sind wir mit unseren Ampel-Koalitionspartnern im Gespräch.“ Krick und Weißing begrüßen den Vorstoß, bemängeln jedoch, dass es nicht eindeutig genug ist: „Da ist auch wieder die Frage, was ist mit erheblicher sexueller Belästigung gemeint?“, kritisiert Weißing.

Da Catcalling keinen eigenen Strafbestand darstellt, wird es durch die Polizei nicht separat erfasst. „Valide Fallzahlen können daher nicht ausgewiesen werden“, so die Berliner Polizei. „Deliktisch handelt es sich nach hiesiger Einschätzung bei (strafbaren) angezeigten Sachverhalten um einen Teilbereich der ‘Beleidigungen auf sexueller Grundlage’.“ In den Monaten Januar bis Juni 2023 seien 360 solcher Beleidigung auf sexueller Grundlage zur Anzeige gebracht worden. Spitzenreiter der Bezirk Mitte mit 57 Anzeigen. Zu beachten sei bei den Fallzahlen, dass Tatörtlichkeit nicht in ‘öffentlich’ und ‘nicht öffentlich’ ausgewertet werden könne, so die Polizei Berlin.

Ankreiden hat sich von New York aus international ausgebreitet

Meist kreiden die Aktivistinnen bei einer Aktion gleich mehrere Catcalls an. Und im Normalfall wird im Team gearbeitet, erklärt Krick, „weil – es ist etwas paradox – aber häufig wird man während des Ankreidens doof angemacht.“ Allgemein fielen Reaktionen gemischt aus: Manchmal anerkennend, manchmal bekämen sie Fragen dazu gestellt. Oft würden Menschen aber auch einfach diskutieren wollen: Ihre Meinung, ihr Unverständnis klar machen, beinahe als ob sie ihr Verhalten rechtfertigen wollten.

Krick und Weißing empfinden Ekel, Fassungslosigkeit und Wut darüber, dass sexuelle Belästigung für Frauen immer noch alltäglich ist.
Krick und Weißing empfinden Ekel, Fassungslosigkeit und Wut darüber, dass sexuelle Belästigung für Frauen immer noch alltäglich ist. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Praxis des Ankreidens, auf Englisch „chalk back“, kommt ursprünglich aus New York und hat sich von dort aus international ausgebreitet. Mittlerweile gibt es in verschiedenen deutschen Städten Untergruppen. „Irgendwas zwischen wöchentlich und täglich bekommen wir Catcalls zugeschickt“, so Weißing. Alle Einsendungen sammelt das Team in einer Tabelle. Viele der Catcalls kommen mit konkreter Ortsangabe. In regelmäßigen Abständen kreiden die Aktivistinnen von Catcalls of Berlin die zugesendeten sexuellen Belästigungen für die Betroffenen an. Aktionen wie das Ankreiden geben Opfern eine Stimme. Stehen dementgegen, dass bei sexualisierter Gewalt der Fokus oft auf Täter und nicht das Opfer gelenkt wird, wie auch der Fall Rammstein zeigt.

Grenzen aufzeigen und Denkmuster aufbrechen

Die aktivistische Arbeit ist nicht immer einfach, löse mitunter Ekel, Unverständnis, Fassungslosigkeit aus, erzählt Krick, „und Wut, Wut, dass sowas immer noch möglich ist. Dass es Menschen gibt, die sich sowas erlauben. Einfach solche Aussagen tätigen, ohne darüber nachzudenken.“ Die beiden Studentinnen wollen Denkmuster aufbrechen, Grenzen aufzeigen. Und es sei auch ein stückweit Täterprävention, so Weißing, „dass Männer, die sich dessen nicht bewusst sind, es lesen und sich Gedanken machen, was ihr Handeln auslöst.“

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Häufig werden die Aktivistinnen mit der vermeintlichen Rechtfertigung konfrontiert, dass es sich doch um ein Kompliment handle. Aber Catcalling ist eine Degradierung, erklärt Krick. „Es ist eine Art Frauen auf ihren Körper zu reduzieren, sie zu objektifizieren, zu sexualisieren. Überlegenheit und Dominanz auszudrücken. Eine Einschüchterung“, fügt Weißing hinzu. Generell passiere Catcalling ungefragt und unvorbereitet im Alltag, meist auf unangenehme Weise. Und in einer großen Häufigkeit: „Ich habe keine einzige Freundin, die noch nie mit so einer Situation konfrontiert war“, so Weißing.

Catcalls of Berlin: Engagement willkommen

Das bestätigen auch Umfragen: Wie das Hamburger Abendblatt berichtet, gaben bei der nichtrepräsentativen Onlinebefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 90 Prozent der Teilnehmenden an, innerhalb der vergangenen drei Monate wegen ihres Aussehens im öffentlichen Raum bewertet worden zu sein. Mehr als 60 Prozent, der knapp 4000 Befragten, hätten anzügliche Bemerkungen gehört. Mehr als 40 Prozent wiederum hätten angegeben sexistisch beschimpft worden zu sein.

Die Studentinnen packen zusammen, die bunten Straßenmalkreiden kommen zurück in die Plastikbox. „Meldet euch bei uns, wenn euch ein Catcall passiert, schickt ihn uns zu“, ermutigt Krick „und wenn ihr Interesse habt – begleitet uns mal bei einer Aktion.“ Die beiden Frauen ziehen weiter an die nächste Stelle. Sie haben noch so einiges anzukreiden.