Kriminalität, Subkultur, wildes Nachtleben, Drogen und Gentrifizierung: Kaum ein Ort vereint dies wie das RAW-Gelände.

Es ist ein Ort, ein bisschen so wie Berlin selbst: voller Widersprüche, mit vielen Akteuren und einem Wirrwarr an Besitzansprüchen. Ein Ort, an dem Kleinkunst, Kriminalität und Kommerz koexistieren. Zerklüftet und doch irgendwie zusammenhängend, schillernd und schäbig zugleich. Wer hier eben noch am Sonntagnachmittag mit seinen Kindern über den Flohmarkt schlenderte, würde die Gegend vielleicht nachts aus Angst vor massiver Kriminalität eher meiden. Alles, was über diesen Ort geschrieben wurde, ist zu gleichen Teilen Klischee und Wahrheit: No-go-Area, Partymeile, Brennpunkt, Touristenmagnet, Brache.

Ein Feldversuch in Sachen Stadtentwicklung

Gemeint ist das RAW-Gelände, knapp 71.000 umstrittene Quadratmeter in Friedrichshain. Die Google-Rezensionen reichen von Sätzen wie „Bester place zum Feiern in Friedrichshain“ bis zu „Früher gab es hier Kreative und Subkultur, heute hat das Gelände seinen Charme verloren und in den Bars läuft Justin Bieber“. Tatsächlich ist es dieses Spannungsfeld zwischen Subkultur und Kommerz, das auf dem RAW spürbar wird.

Was hier in den kommenden Jahren geschehen wird, lässt sich auch deswegen als eine Art Feldversuch für ganz Berlin interpretieren: Kann man urbane Entwicklung und alternative Angebote vereinen? Können Bürogebäude und subkulturelle Räume koexistieren? Wie sieht es aus, dieses Berlin der Zukunft – eine Metropole, in der Kreative weiter existieren können, oder eine Großstadt, die sich nur den Anschein gibt, ein Mekka für Künstler zu sein, während die hohen Mieten genau die verdrängen, die dieses Image erst ermöglichten?

Einst war hier einer der Freiräume, die das Berlin der 90er-Jahre und des folgenden Jahrzehnts so betörend für Kreative aus aller Welt machten. Doch mit den Jahren wurde das Areal immer mehr zu einem Dorado für Touristen, die abseits von Brandenburger Tor und Co. nach dem wahren, dreckigen Berlin suchten. Von denen viele den Verfall der denkmalgeschützten Gebäude an der Revaler Straße als eine Art Freibrief sahen, sich zuzudröhnen wie sonst nur am Ballermann, und sich so zu verhalten, wie sie es zu Hause niemals tun würden.

Kriminalität ist gesunken

Rund um das Gelände an der Warschauer Brücke florierte der Drogenhandel mal mehr, mal weniger, auch das ist Teil der Realität. Dies rückte im August 2015 in den bundesweiten Fokus, als die Sängerin Jennifer Weist auf Facebook ein Foto eines Freundes postete. Darauf zu sehen war eine schlimme Schnittwunde am Hals, die ihm zwei Männer auf dem RAW-Gelände zugefügt hatten. Viele erklärten die Gegend um die Warschauer Brücke daraufhin zur No-go-Area, Anwohner und Betreiber forderten mehr Polizeipräsenz. Tatsächlich ist seitdem die Kriminalität im Bereich des RAW-Geländes stark zurückgegangen: Im Jahr 2015 gab es dort 179 Körperverletzungsdelikte, von Januar bis September 2017 waren es nur 84.

Ähnlich drastisch gesunken sind in diesem Zeitraum die Zahlen bei Raub- und Diebstahlsdelikten: von 73 auf 18 beziehungsweise von 1066 auf 256. Der neue Eigentümer gab nach eigenen Angaben streckenweise bis zu 75.000 Euro monatlich für Security auf dem Gelände aus und sieht den Rückgang der Kriminalität zumindest teilweise auch als seinen Verdienst.

Nun bereiten sich Eigentümer, Betreiber und der Bezirk auf ein Dialogverfahren vor, das klären soll, wie das RAW entwickelt werden kann, und gleichzeitig, wie der zuständige Stadtrat Florian Schmidt (Grüne) es formuliert, „die alternativen Angebote und Freiräume auf dem Gelände erhalten werden können“. Anfang kommenden Jahres soll es beginnen, der Bezirk soll es steuern.

Zuvor war 2016 ein ähnliches Verfahren, das der neue Eigentümer initiiert hatte, gescheitert. Der Großteil des Geländes, knapp 52.000 Quadratmeter auf der westlichen Seite, gehört seit Anfang 2015 der Investorenfamilie Kurth aus Göttingen. Es soll ihr 20 Millionen Euro wert gewesen sein. Viele der Akteure auf dem RAW begegneten den Kurths zunächst mit Misstrauen. Zu oft hatte man hier schlechte Erfahrungen mit Investoren gemacht, zu viele Gentrifizierungsgeschichten mit schlechtem Ausgang hat die Stadt schon gesehen.

Lauritz Kurth (29), Junior in der Firma seines Vaters Hans-Rudolf, ist zweifelsohne nicht das, was man sich unter einem Bewahrer von Subkultur vorstellt. Er hat Betriebswirtschaftslehre an der Londoner City University studiert, trinkt mehrere doppelte Espressi am Tag und spricht diese neue Art von Deutsch, die so viele aufstrebende junge Menschen sprechen: durchsetzt von Anglizismen und Wendungen wie „wissen Sie“. Doch es wäre zu einfach, zu klischeehaft, Kurth nur als privilegierten Sohn aus besserem Hause abzutun. Wollte er mit dem Gelände möglichst viel Profit machen, gäbe es viele Optionen. Er scheint sich gegen sie entschieden zu haben. Vielleicht aus Anstand, vielleicht aus Furcht vor Anfeindungen.

Betreiber sollen weitermachen dürfen

Ein Montagnachmittag, Kurth führt über das RAW-Gelände. Er könnte in seinem schicken Outfit nicht deplatzierter wirken, aber an seinem entschiedenen Gang sieht man, dass er mindestens einmal die Woche da ist, meist häufiger. Vom Suicide Circus geht es zum Astra. Inhaber Torsten Brandt steht im großen Vorraum der Halle. Früher war hier die Kantine des Reichsbahnausbesserungswerks (RAW). Wenn Kurths Pläne, auf dem Gelände auch Büroräume zu bauen, realisiert werden, müssten der Suicide Circus und das Astra umziehen.

Kurth hat den Betreibern zugesichert, dass sie an einer anderen Stelle auf dem Gelände weitermachen könnten. Brandt wird später sagen, es habe schon schlimmere Eigentümer gegeben. „Es geht nur miteinander. Klar möchte er so viel Fläche wie möglich bebauen, aber dann soll er doch die Warschauer Straße zubauen. Ist ohnehin hässlich. Wenn wir auf dem Gelände bleiben dürfen und langfristige Mietverträge bekommen, ist das viel wert. Wo gibt es so etwas noch in Berlin?“

Das Alte bewahren könne er aber nur, indem er das Gelände auch neuen Mietern zugänglich mache, argumentiert Kurth. „Man kann allein mit charmanten Nutzungen nicht überleben. Das wäre nicht wirtschaftlich. Wir brauchen auch etwas, dass sich selber trägt“, sagt er. Einen solchen Partner hat er mit dem BIMM, dem Berlin Music College, gefunden. Die Privatuniversität, Schulgebühr 7000 Euro im Jahr, soll ab Herbst 2018 auch einen Teil der 4200 Quadratmeter großen, bis dahin sanierten Radsatzdreherei nutzen.

„Wir wollen das, was Berlin verheißt, hier einfangen: wild, leicht chaotisch, frei. Aber all dies auf ein solides wirtschaftliches Fundament stellen“, sagt Robert Witoschek, Manager der Noisy Academy, die gemeinsam mit der BIMM den neuen Standort aufzieht. Was sowohl Kurth und Witoschek in ihrer Euphorie zu vergessen scheinen: Ihr Vorhaben ist ein Widerspruch in sich. Das Wilde und Chaotische Berlins existierte eben immer abseits von solidem Wirtschaften, von Begriffen wie Rentabilität und Entwicklung. Wird es ausgerechnet an diesem Ort krasser Gegensätze gelingen, Kommerz und Subkultur zu vereinen?

"Wir wollen nicht zu einer soziokulturellen Insel werden"

Wenn Kurth an einem Ende des Spek­trums möglicher Visionen für das RAW steht, dann steht Kuno Zscharnack vom Verein RAW cc am anderen. Der Verein ist eine Art Nachfolger des RAW-tempel e.V. Sein Ziel ist es, soziokulturelle Angebote auf dem Gelände zu erhalten. Zscharnack sieht die Entwicklung des Geländes kritisch, selbst wenn sein Verein, Künstler und soziale Einrichtungen in den denkmalgeschützten Gebäuden an der Revaler Straße auch in Zukunft zu einer subventionierten Miete bleiben könnten. „Wir wollen nicht zu einer soziokulturellen Insel oder einer Art Zoo werden, nur umgeben von Kommerz und Büros“, sagt Zscharnack.

Ähnlich geht es den Machern der Urban Spree Galerie. Sie fragen sich, inwiefern sie in einem entwickelten Umfeld als Street-Art-Gallery noch glaubhaft sind.

Ein von Kurth initiiertes Dialogverfahren, bei dem die Betreiber sich einbringen sollten, scheiterte. „Als das Partizipationsverfahren begann, hatten wir das Gefühl, alle Pläne seien schon gezeichnet, und man wolle lediglich den Eindruck erzeugen, wir hätten uns eingebracht“, sagt Zscharnack vom RAW cc.

Kurth sagt, man würde geradezu nach Dingen suchen, die man ihm vorwerfen kann. „Wenn alle lügen, dann fühlt sich der, der die Wahrheit sagt, als sei er mit dem Messer zur Schießerei gekommen“, sagt er zu den Vorwürfen um das Dialogverfahren. Und: „Es ist nicht so, dass ich Filialen der Deutschen Bank oder einen VW-Showroom auf das Gelände hole. Mir ist es wichtig, das Besondere hier zu erhalten, deswegen suchen wir nach Firmen, die dazu passen.“

Nun soll der Bezirk planen

Nun soll der Bezirk das schaffen, was Kurth nicht vermochte, was in fast 20 Jahren hier noch nie gelungen ist: eine langfristige Planung, alle Akteure auf einen Nenner bringen. Ein ambitioniertes Unterfangen. Oder nicht? „Ich glaube daran, dass es uns gelingt. Es muss auch gelingen, denn die Situation ist, so wie sie jetzt ist, nicht mehr tragbar. Auf dem Gelände ist es in Teilen zu einer Touristifizierung gekommen, die für die Anwohner nicht mehr tragbar ist.

Die nicht rein kommerziellen Projekte werden dagegen zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Es gibt von allen Seiten das Interesse, dass wir zu einer Lösung kommen, welche die alternativen Angebote auf dem Gelände erhält. Und es wäre sträflich, wenn man es nicht versucht“, sagt Stadrat Schmidt. Dass gebaut werden wird, ist klar. Ebenfalls klar ist: Wohnungen werden hier nicht entstehen. Denn deren Bau verhinderte die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg auf Antrag der Grünen im Juni 2014.

Da mutet es schon etwas merkwürdig an, dass die International Campus AG, deren Kernkompetenz der Bau studentischer Wohnungen im höheren Preissegment ist, den östlichen Teil des Geländes erworben hat, dort, wo früher die Neue Heimat mit ihrem Food-Markt hippe Berliner und Touristen anlockte. Hier wird eine Art Coworking und Event-Zentrum entstehen. Die mit Graffiti beschmierten Wände sollen bleiben, mögliche Mieter und Nutzer sind Start-ups.

Tausende Visionen für das RAW

Schmückt man sich hier nicht mit genau der Subkultur, die man verdrängt hat? „Dass diese Art von Subkultur und Zwischennutzung in großen Städten immer mehr an die Peripherie gedrängt wird, stimmt natürlich“, sagt Benjamin Röber-Rathay, Marketing-Direktor der International Campus AG. „Eine Lösung kann sein, Räume zu schaffen, wo wir beides vereinen, so wie hier.“

Doch vielen mutet dieser Gedanke an wie die Quadratur des Kreises. Es scheint, als gebe es zur Zukunft des Geländes Tausende Visionen, die einander größtenteils ausschließen. Angesichts der vertrackten Gegenwart ist da ein Blick in die Vergangenheit durchaus lohnenswert. Jochen Winckelmann, Disponent bei der Talgo AG, die am östlichen Teil des Geländes noch heute Züge repariert, machte in den 80er-Jahren seine Ausbildung bei der Reichsbahn.

„Es war hier sehr grau“, sagt Winckelmann. Damals habe es genau eine Kneipe an der Revaler Straße gegeben: die Betriebsgaststätte von Bodo und Inge, die von 14.30 bis 20 Uhr geöffnet hatte, um die Angestellten nicht in Versuchung zu führen, am nächsten Tag der Arbeit fernzubleiben. Dass alles so bunt und lebhaft werden würde, sagt Winckelmann, habe sich damals keiner erträumt. Dass der Ort, wo er seine Ausbildung machte, heute kaum erkennbar ist, stört ihn nicht. „So ist das eben“, sagt Winckelmann. Damit ist er einer der wenigen, die das alles ziemlich gelassen sehen.

Was ist wo auf dem RAW-Gelände? Und wem gehört welcher Teil?

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Suicide Circus: Dieser mittelgroße Technoclub verfügt über einen großen Mainfloor sowie eine etwas kleinere Außenterrasse und ist vor allem bei Touristen beliebt.

Urban Spree: Das Urban Spree ist eine Street-Art-Galerie mit angeschlossenem Biergarten. Hier finden auch alternative Festivals wie das Midsommar der Musikagentur „Nordic by Nature“ statt.

Astra: Im Astra finden regelmäßig Konzerte in Musikrichtungen wie Rock, Punkrock, Hip-Hop und Pop statt, außerdem wird das Venue auch als Nachtclub genutzt, für Veranstaltungen wie die „Astra! Astra! Party! Hits!“ zum Beispiel.

Berlin Music College, kurz Bimm: Die Universität bietet Bachelorstudiengänge in Bereichen wie Songwriting oder Music Production an, ab Herbst 2018 soll auch ein Teil der Radsatzdreherei genutzt werden.

Denkmalgeschützte Gebäude: Beamtenwohnhaus, Ambulatorium und Verwaltungsgebäude Hier sind verschiedene soziokulturelle Angebote angesiedelt, darunter der RAW cc e.V., der Kinderzirkus Zick Zack, diverse Künstlerateliers und viel mehr. Das Ambulatorium soll in Zukunft von einem Kollektiv aus Menschen aus dem Konzert- und Kulturbetrieb bespielt werden.

Haubentaucher: Der Club mit Pool zog vor zwei Jahren jede Menge Menschen auf das Gelände, morgens wurden hier Yogastunden angeboten, abends war es ein Ort zum Sehen und Gesehen werden.

Bar zum schmutzigen Hobby: In der Schwulenszene ist diese Bar eine feste Größe.

Skatehalle: Hier trainieren unter anderem Schulklassen, erwachsene Wiedereinsteiger und der Olympia Kader des 1. Berliner Skateboardvereins e.V.

Der Kegel: Die Boulderhalle bietet eine Vielzahl von Kursen für Anfänger und Fortgeschrittene, es gibt außerdem einen Außenbereich und auch die Möglichkeit, hier Seilklettern zu üben.

Cassiopeia: Der Club mit Kneipe gehört ebenfalls zum Zusammenschluss RAW Kultur L, dessen ziel es ist, das soziokulturelle Angebot auf dem Gelände dauerhaft zu sichern.

Talgo: Die Talgo GmbH Deutschland hält Züge des Tag- und Nachtverkehrs instand und hat gegenwärtig über 110 Mitarbeiter.

Badehaus Szimpla: In diesem Club und Konzertort finden neben Parties auch Jazz-Sessions und Comedy-Shows statt.

Geplantes Coworking Space und Event-Center: Früher wurde hier gegessen, jetzt soll hier gearbeitet werden, so planen das die neuen Eigentümer.